Heimspiel-Regelkunde
Heimspiel-Regelkunde: Die Abstoßregel
Von Thorsten Kaatz
(20.05.20) Unter den 17 Fußballregeln gibt es Regeln, die zum Beispiel während der Schiedsrichterausbildung keine größere Beachtung finden. Nicht nur, weil sie im 160-seitigen Regelwerk aus gerade einmal eineinhalb Seiten bestehen, sondern auch, weil sie für den Fußballer recht unspektakulär sind. Eine dieser „kleineren“ Regeln ist der Abstoß (Regel 16).
Dabei verdient der Abstoß im Fußballsport sicherlich Aufmerksamkeit, denn der Abstoß ist eine der ersten festgelegten Regeln - sogar älter als die Regel der Begrenzung der Anzahl der Feldspieler auf elf Mann. Die Abstoßregel wurde 1869 als - Achtung! - Abstoß durch den Torwart AUS der HAND eingeführt. Der Ball wurde also durch den Torhüter eingeworfen, so wie wir es heute aus dem Hallenfußball oder dem Futsal kennen. Dort heißt es also„back to the roots!“. Erst 1937 wurde diese Form des Abstoßes abgeschafft und durch einen Stoß mit dem Fuß ersetzt.
Mir selber war gar nicht so bewusst, dass es während meiner 29-jährigen Tätigkeit als Schiedsrichter durchaus gravierende Änderungen in der Abstoßregeln gegeben hat. Natürlich ist DIE Änderung zum Anfang aus dieser Spielzeit 2019/20 präsent. Der Ball ist im Spiel, wenn er sich nach dem Stoß mit dem Fuß bewegt hat. Somit muss der Ball heute nicht mehr wie vormals erst den Strafraum verlassen haben, bevor er von einem weiteren Spieler berührt werden durfte. Wird der Ball nicht mit dem Fuß ins Spiel gebracht - wie im Spätsommer 2019 in der Bundesliga geschehen - so muss der Schiedsrichter auf Wiederholung des Abstoßes entscheiden.
Die beiden Situationen, die bei der Schiedsrichterausbildung im Zusammenhang mit dem Abstoß angesprochen werden, führen bei den Teilnehmern immer zu leichtem Kopfschütteln, weil sie so unwahrscheinlich erscheinen.
Die erste Situation (Video 1): Der Torhüter C. Kiratli von RW Neukölln III führt einen Abstoß aus und der Ball landet ohne jede weiter Berührung im gegnerischen Tor (so geschehen 2015). Als Lehrwart war mir klar, dass das Tor anzuerkennen ist. Was mir nicht mehr wirklich bewusst war, dass beim Abschluss meiner eigenen Schiedsrichterausbildun die Abstoßregel noch besagte, dass das Tor nicht anzuerkennen sei. Erst 1996 wurde die Regel dahingehend geändert, dass ein direkt erzieltes Tor gültig ist.
Die zweite Situation (Video 2): Dieses Video zeigt deutlich, dass es für Schiedsrichter wichtig ist, sich auch mit solchen seltenen Fällen zu beschäftigen. Denn hier wird durch den Schiedsrichter ein klarer Fehler begangen: Der Torhüter in einem Jugendspiel im Raum Stuttgart führt einen Abstoß aus. Der Ball geht nach oben, wird durch den heftigen Wind zurück gedrückt und landet ohne weitere Berührung hinter dem Torhüter im eigenen Tor. Hier wird durch den Schiedsrichter das Eigentor gegeben, was auch damals (2010) FALSCH gewesen ist. Da damals der Ball wohl den Strafraum in der Luft nicht verlassen hatte, war der Ball nicht ins Spiel gekommen. Richtig wäre damals eine Wiederholung des Abstoßes gewesen. Durch die oben beschriebene Regeländerung aus 2019 ist der Ball ins Spiel gelangt - sprich: der Ball wurde gestoßen und hat sich offensichtlich auch bewegt. Der heutige Regeltext (Seite 98) dazu lautet:“ Wenn der Ball direkt ins Tor des ausführenden Spielers geht, erhält das gegnerische Team einen Eckstoß.“ Eckstoß wäre also die richtige Entscheidung heute.
Solche Situationen sind selten aber sie geschehen und deswegen ist es - besonders für Schiedsrichter - wichtig, sich damit zu beschäftigen, um im seltenen Fall dann auch unter Stress die richtige Entscheidung zu treffen. Nach dem Mott „expect the unexpected“.